Künstlerische Prozesse als Inspirationsquelle
Forschungsergebnisse in Organisationen „transponieren“ – eine Buchbesprechung
Die Arbeitsprozesse von Künstlerinnen und Künstlern sind für mich geheimnisvoll und faszinierend – und ich wunderte mich immer, dass sich die Organisationsforschung noch nicht damit auseinandergesetzt hat. Nun habe ich das Buch „Praktiken des Komponierens“ von Tasos Zembylas und Martin Niederauer entdeckt. Ich höre gern Musik, bin aber weder Komponistin noch Musikerin oder Musikwissenschaftlerin. Wieso habe ich mich angesprochen gefühlt? Ich las den englischsprachigen Kurztext: „Art matters. It affects us in our daily lives and is full of meanings that are valuable to all of us…. is a catalyst for social interactions and cultural dynamics.“ Daher empfehle ich dieses Buch auch Menschen in Organisationen, besonders jenen in Führungsfunktionen und deren Beratern.
Gesellschaft und vor allem die Wirtschaft ist auf der Suche nach dem Neuen. Kreative Prozesse sind heute zentrales Thema wenn es um das Neue Arbeiten, um Schwarmintelligenz, um Innovation geht. Querdenker werden beschworen, aber wo findet man sie? Künstlerinnen und Künstler sind ExpertInnen des originär Neuen, für Radikale Innovationen. Künstler schaffen NEUES, wo vorher nichts ist:
– die weiße Leinwand – der Maler das Bild, die Zeichnung
– der leere Raum – der Choreograf und die Tänzer die Performance
– der rohe Stein oder das Holz – der Bildhauer die Statue
– die Stille / das leere Notenblatt – der Komponist das Musikstück
– das leere Blatt Papier – der Dichter die Geschichte, das Gedicht, den Roman
In Gesprächen mit KünstlerInnen habe ich immer nach ihrer Arbeitsmethode gefragt, daraus ist eine lange Liste entstanden, von „ästhetisch“ bis „wahrnehmen“. Das Problem dabei ist, dass die meisten KünstlerInnen ihre Schaffensprozesse zwar analysieren und reflektieren, in ihrer Beschreibung fehlt aber gerade das was unbewusst und ungeplant abläuft. Ist es eine „black box“? Kann man diese Blackbox öffnen? Sind künstlerische Methoden auch in Organisationen anwendbar und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?
Deshalb hat mich die Ankündigung der wissenschaftlichen Erforschung von kompositorischen Schaffensprozessen fasziniert. Hier wird die eigene Reflexion durch das ergänzt, was unreflektierbar ist, all das was „im Tun“ implizit ist, das „tacit knowing“. Und implizites Wissen hat mich bereits 1996 beschäftigt, als wir im Hernstein International Management Institut eine Konferenz zum Thema Wissensmanagement mit dem damals führenden Experten, dem Japaner Hirotaka Takeuchi, organisierten.
So habe ich zu diesem Buch gegriffen. Die Selbstbeschreibungen der KomponistInnen wurden in diesem Forschungsprojekt durch eine soziologisch und wissenstheoretisch inspirierte Perspektive erweitert. Darüber hinaus werden Komponenten und Bedingungen erfasst, die künstlerische Handlungsfähigkeit konstituieren.
Die Ergebnisse dieser Forschung auf Prozesse in Organisationen zu übertragen, ist mir leicht gefallen. Es ist eher verwunderlich, warum künstlerische Prozesse nicht schon lange als Inspirationsquelle angenommen werden. Ich habe in nahezu allen Kapiteln Parallelen gefunden.
Dazu nur ein paar Beispiele:
- Wie kann ein noch im Entstehen befindliches Werk greifbar werden? Man kann es nicht beschreiben, also greift der Künstler zu Metaphern, Zeichnungen, zu Probehandeln, zu einer „imaginativen Antizipation“. Wie könnte das helfen, geplante Entwicklungen im Unternehmen fühlbar und erlebbar zu machen?
- Wie gelingen die Dialoge mit den „Peers“, Dirigenten und MusikerInnen, von denen Komponisten abhängig sind? MusikerInnen sehen sich oft nicht nur als Reproduzierende, sondern mit eigenen Vorstellungen der Gestaltung und der eigenen Suche nach Lösungen bei Problemen. Was wenn der Dirigent den Probenprozess eher autorität als partizipativ gestaltet? Genau das läuft doch auch bei Teams in Organisationen ab – was kann man aus dem Kunstbetrieb lernen?
- Wie werden Beziehungen zu Auftraggebern, ZuhörerInnen, dem technischen Personal gestaltet, die für den Erfolg maßgeblich sind? Die gleichen Themen sind im Unternehmen aktuell.
- Welche Rolle spielen materielle und immaterielle Ressourcen: Instrumente, Computer, explizites Wissen, Systeme, Diskurse, formale Regeln. Sie helfen Ideen zu strukturieren, aber auch zu improvisieren und zu experimentieren. Andererseits verleiten Instrumente dazu, Gewohntes zu reproduzieren. Auch Manager wünschen sich zu oft Sicherheit durch formale Rezepte und Prozedere. Wie kann künstlerische Improvisationskunst, das Körperwissen also die sinnlich-körperliche Wahrnehmung, das „Gespür“, in der Wirtschaft helfen eine neue Innovationskultur und genuin Neues zu etablieren?
- Wie beeinflussen die Rahmenbedingungen und Ressourcen das Ergebnis, also Auftrag und Vorgaben, institutionelle Gegebenheiten, Raum, Zeit, die Atmosphäre des Arbeitsortes? Genau da nehmen Künstler schnell wahr, was das Arbeitsklima fördert oder belastet. Wie können Unternehmen von diesen Fähigkeiten profitieren?
- Wie wird die Tagesroutine organisiert und wie parallel dazu Projekte? Wie geht der Künstler mit der „Unmöglichkeit“ von Termindruck um wenn etwas Innovatives entstehen soll? Auch vor diesen Widersprüchen stehen Führungskräfte und MitarbeiterInnen in Organisationen.
Besonders anregend fand ich das Kapitel „Prozesshaftigkeit des Komponierens“. Man liest über die Nicht-Linearität und Ergebnisoffenheit von kreativen Prozessen, über turning points, den Unterschied zwischen zielgerichtet und zielgesteuert, über den Umgang mit Komplexität. Durch Analysen von Skizzen und Tagebüchern der KünstlerInnen, Klangaufnahmen, Videos, persönlichen Berichten haben die Forscher Licht in diese Prozesse gebracht.
Das „empirische Herz“ der Studie bilden fünf Fallstudien von Kompositionsprozessen von der ersten Idee bis zur Uraufführung. Die KomponistInnen sind Marko Ciciliani, Karlheinz Essl, Clemens Gadenstätter, Katharina Klement und Joanna Wozny. Das Besondere daran: der Prozess wurde von den Künstlern und den Forschern während der gesamten Dauer – also in real time – beobachtet und dokumentiert. Normalerweise wird nach Abschluss eines Projekts rückblickend der Ablauf analysiert. Das macht einen großen Unterschied – und auch das ist eine Anregung für die betriebliche Praxis.
Unternehmer und Manager verbinden Veränderungen stets mit konkreten Erwartungen und Zielen: neue Produkte, mehr Umsatz, weniger Krankenstände, weniger Fluktuation etc. Angst und Unsicherheit nähren das Bedürfnis nach einer – wenn auch illusorischen – Verbindlichkeit. Wenn die Lektüre dieses Buches Führungspersönlichkeiten nur von Einem überzeugt, dann lohnt sich die Investition bereits: Innovationsprozesse haben keine finale Gestalt, daher ist der „offene Ausgang“ das Beste was man sich als Ziel wünschen kann. Und Künstlerische Methoden sind auch in Organisationen anwendbar. Dieses Buch schenkt dafür viele Anregungen.
Tasos Zembylas, Martin Niederauer „Praktiken des Komponierens“, Soziologische, wissenstheoretische und musikwissenschaftliche Perspektiven. Springer VS, Wiesbaden 2016, ISBN 978-3-658-13507-2